Über ein Jahr befinden wir uns durch die Corona Pandemie im Ausnahmezustand – das gewohnte gesellschaftliche Leben ist nahezu vollständig runtergefahren. Überfüllten Kalendern mit allerlei Aktivitäten ist einer privaten Zwangsentschleunigung gewichen, die wir Menschen unterschiedlich zu füllen versuchen. Unsere Autorin Carmen Schell hat euch hier ihre Gedanken zum Haustier-Boom in der Coronakrise niedergeschrieben.
Was tun in der freien Pandemie-Zeit?
Ach, wie vermisse ich es, ins Kino zu gehen oder im Café bei einer Tasse Kaffee mit Laptop bewaffnet an meinen Fachartikeln zu schreiben! Sicherlich, meine Fachartikel schreibe ich nach wie vor – wenn auch nicht in meinem Lieblingscafé - aber obgleich ich noch nie dauernd auf Achse war, sind in der Pandemie auch bei mir einige Zeitslots unfreiwillig zur gähnenden Lücke in meinem Kalender geworden. Einen respektablen Anteil davon hat sich meine Katzenomi unter die Krallen gerissen – und für diese innige Zeit an ihrem Lebensabend sind wir anscheinend beide gleichermaßen glücklich. Doch was mit der sonstigen Zeit anfangen? Ich habe einen Großteil der freien Zeit in Renovierungsarbeiten und „Dinge, die ich schon immer mal erledigen wollte“ investiert. Wie ist es bei dir? Verbringst du auch mehr Zeit mit deinen Haustieren? Oder überlegst du, diese außergewöhnliche Zeit für die Aufnahme eines neuen tierischen Begleiters zu nutzen?
Haustier-Boom in der Coronakrise: Fluch oder Segen?
In letzterem Fall bist du in bester Gesellschaft: Im Zuge der Pandemie gibt es auffallend viele Menschen, die ein (zusätzliches) Haustier aufnehmen. Eigentlich eine wunderbare Sache, denn so gibt es seit einiger Zeit deutlich weniger Tiere im Tierheim. „Eigentlich“ – denn dieser Haustier-Boom in der Coronakrise hat auch eine Kehrseite. Damit meine ich nicht (nur) die von Tierschützern bereits thematisierte Rückgabeflut, die uns aller Wahrscheinlichkeit nach erreichen wird, wenn einige frisch gebackene Halter feststellen müssen, dass sie irgendwann wieder aus dem Homeoffice oder der Kurzarbeit zurückkehren müssen – und dann immer noch ein Tier haben, das nur ungern zehn Stunden und mehr allein ist. Die grundsätzlich unüberlegte Übernahme von Haustieren während der Pandemie ist schon in vielen Beiträgen dargestellt worden – zu Recht wie ich befürchte. Allerdings gibt es schon jetzt weitere Aspekte zu bedenken – und Chancen, die wir nutzen können in der Zeit, in der so vieles anders ist als sonst.
Jetzt oder nie – ein Traum wird wahr
Wer früher nie Zeit für ein Haustier hatte oder bei dem „immer irgendetwas dagegensprach“, sieht jetzt die Gelegenheit, sich endlich den Traum einer Katze oder eines Hundes zu erfüllen. Noch toller, wenn man seinen Kindern den Wunsch eines Haustiers erfüllen kann. Man ist schließlich überwiegend im Homeoffice und die Kinder im Homeschooling oder zumindest in ihrer Freizeit zuhause – gelangweilt und mit viel Blödsinn im Kopf. Da sorgt vielleicht ein quirliges Kätzchen für neues Leben! Tatsächlich häufen sich bei meinen Kolleginnen und mir jedoch in letzter Zeit mehr und mehr Beratungsanfragen, die sich um randalierende Kitten drehen oder bei welchen sich die bestehenden Haustiere bei weitem nicht so sehr über den tierischen Zuzug freuen wie der Mensch, der diesen mit nach Hause bringt. Es werden teilweise scheinbar wahllos Tiere geholt und/oder gerettet, manchmal sogar noch ungeborene Kitten bei Züchtern „bestellt“.
Gut gemeint – nicht immer gut gemacht
Ungeachtet der oft gut gemeinten Gründe für die Aufnahme, erfolgt sie mitunter nicht weniger unüberlegt. Die Tiere haben die gleichen Bedürfnisse wie in der Zeit vor (und nach) der Pandemie. Du solltest dir also darüber im Klaren sein, welche Bedürfnisse dieses Tier mitbringt und dir die Frage ehrlich beantworten, ob du dem gerecht werden kannst. Ein gelangweiltes Kitten macht während der Pandemie ebenso viel kaputt wie bisher. Hand aufs Herz: war es in der Vergangenheit wirklich nur die Zeit, die dich von der Aufnahme abgehalten hat? Wenn ja, hast du dich mit den Anforderungen an die Haltung von Haustieren auseinandergesetzt und gehst jetzt tatsächlich gewissenhaft darauf ein, oder beschränkt sich deine Aufmerksamkeit auf die von dir favorisierten Eigenschaften des Zusammenlebens wie dem Kuscheln oder Spielen (zu deinen Konditionen)? Bedenkst du dabei, dass sich dein Tier daran gewöhnt, was du ihm bietest – und das fordern wird, wenn du wieder „normal“ lebst? Woran gewöhnst sich deine neue Katze, wenn du nur im Homeoffice bist? Wie lernen insbesondere Kitten, dass sie normalerweise über viele Stunden am Tag allein sind, wenn du jetzt rund um die Uhr verfügbar bist? Katzen sind Gewohnheitstiere, die ihren Rhythmus schätzen – bedenke bei deinem jetzigen Zusammenleben, dass du gerade die Katze, die es von dir bisher nicht anders kennt, vorsichtig auf dein „normales“ Leben vorbereitet werden muss, damit es nicht zu Stress und vielleicht Problemverhalten kommt.
Chance für die verborgenen Schätze
Gerade jetzt ist es sogar schwierig, eine „passende“ Katze überhaupt zu finden, da die Nachfrage groß ist. Verlass dich nicht nur auf die Beratung durch (vermeintlich) versierte Stellen, sondern setze dich selbst mit deiner Lebensweise und Erfahrung sowie deinen bestehenden Haustieren auseinander. Suche ein Tier, das zu all diesen Faktoren passt und nimm dir Zeit dafür – auch wenn ein Tier, für das du dich interessierst, in der Zwischenzeit schon vermittelt ist. In der Problemberatung häufen sich die Sorgen. Wir werden zu Aggressionsfällen gerufen oder Vergesellschaftungen, bei denen alles schiefgelaufen ist bzw. von Tieren, die unterschiedlicher kaum sein können. Ich werde von Züchtern empfohlen, die bisher nichts von meiner Arbeit wissen wollten und jetzt meinen Namen ins Spiel bringen, weil das verkaufte Kitten so gar nicht zu dem Katzensenior passen will. Der Druck der betroffenen Halter ist hier umso größer, weil manche Züchter ihre „verkauften Katzen“ nicht mehr zurücknehmen – auch nicht bei gescheiterter Integration.
Neben diesen Überlegungen empfinde ich es sehr betrüblich, dass der Haustier-Boom in der Coronakrise offenbar nur die beliebten Tiere betrifft und die „Ladenhüter“ im Tierschutz auch in der Pandemie keine Chance bekommen – dabei hätten wir gerade jetzt vielleicht die beste Möglichkeit, den schüchternen Vertretern „ihre“ Zeit einzuräumen, sich an ein Leben mit uns zu gewöhnen. Sicherlich macht es besonderen Spaß, einen aufgeschlossenen, kuscheligen und entspannten Minitiger begrüßen zu dürfen – aber gerade mit eingeschränktem Gesellschaftsleben könnten wir dem ängstlichen Neuankömmling vielleicht sogar über einen längeren Zeitraum täglich leise vorlesen statt uns mit Freunden zu verabreden bzw. unser hektisches Leben zu führen. Vielleicht können wir bei Bedarf mit fachkundiger Unterstützung an den Spannungen der bestehenden Katzengruppe arbeiten statt ein weiteres Tier zu integrieren. Statt es uns selbst möglichst einfach zu machen, könnten wir uns gerade jetzt um die bemühen, die es vor und nach der Pandemie nicht leicht haben, sich zurecht zu finden bzw. vermittelt zu werden. Es ist sicher eine Gratwanderung, sich mit einem anspruchsvolleren Tier auseinanderzusetzen – und sich dabei trotzdem nicht zu überschätzen. „Retten wollen“ ist keine gute Motivation für eine verantwortungsvolle Aufnahme – moralisch bestimmt lobenswert, aber in der Realität bleiben die Anforderungen die gleichen und die Frage, inwiefern wir diesen (lebenslang) gerecht werden können.
Wäge gut ab, welche Möglichkeiten dein aktueller Alltag bietet – und ebenso welche Risiken genau das in eurem weiteren Zusammenleben bergen könnte und berücksichtige diese Punkte schon jetzt bei der Aufnahme einer Katze. Dann kann der Haustier-Boom in der Coronakrise eine wunderbare Möglichkeit für viele, viele Katzen und Menschen sein.